Auch ein Herrentagsereignis. Es hat wohl in der Mitte der Achtziger stattgefunden. Ich habe an diesem Tag meinen Strohhut verloren. Das heißt, eigentlich bin ich mit meiner einstigen Hutkrempe nach Hause gekommen. Das war zwar bedauerlich aber auch nicht tragisch. Irgendwann mußte der Strohhut aufgeben. Mein Vater hatte ihn schon bei der Gartenarbeit getragen und zuletzt hatte ich mich einige Male versehentlich darauf gesetzt. Ich kann mich an die Rückfahrt von Naumburg erinnern. Einmal fuhr langsam ein Zug in Gegenrichtung an unserem Fenster vorbei. Ich winkte einer jungen Frau mit meiner Krempe. Sie schien das sehr erotisch zu finden und winkte dementsprechend zurück.
Damals waren die Herrentagstouren noch ein echtes Männererlebnis. Im Gegensatz zu heute hatten die meisten Autos schon am frühen Morgen einen Fliederzweig unter dem Scheibenwischer. Dieser Tag war für viele nicht nur Feiertag sondern auch ein Tag des vorsichtigen Protestes – ein Vorbote der Ereignisse von 89. Bisher haben sich die Medien dieses Themas nicht bemächtigt. Und das ist gut so; denn so bleibt das irgendwie unser Eigentum.
Wir waren frühzeitig am Leipziger Hauptbahnhof mit dem Zug in Richtung Naumburg gestartet. In in den Vorhallen des Hauptbahnhofes lautstarke Gesänge unter den teilweise festlich gekleideten Herren. Im Zug viel Musik und nicht nur Einfahrerlieder. Diejenigen, die nicht auf Herrentagstour waren, fielen unangenehm auf. In Bad Dürrenberg schmetterte eine Blaskapelle am Bahnsteig belanglose Lieder. Man kann heute kaum noch nachvollziehen, dass das damals schon eine ausgesprochene Provokation war. Auf der Durchfahrt durch Großkorbetha entrollten einige Herren ein selbstgeschriebenes Transparent mit der Aufschrift „Männer, laßt Euch diesen Tag nicht nehmen!“. Von mehreren Seiten sprangen Transportpolizisten hinzu und rissen es zu Boden. Aber alle hatten es gerade deshalb gelesen. Und das war wohl die größte Dummheit der Trapos.
Ein Jahr später wurden „Nägel mit Köpfen“ gemacht. Die Zugfahrt endete in Großkorbetha – aber das ist eine andere Geschichte, die vieleicht einmal der Jürgen Matthäus aufschreibt.
Wir feierten diesen Tag bei ausgesprochenem Einfahrerwetter im Naumburger Land. Glücklicherweise hatten wir uns reichlich mit Getränken eingedeckt; denn die Gaststätten mußten bis auf das Restaurant am „Himmelreich“ von staatswegen an diesem Tag geschlossen bleiben.
Ein abschließendes Ereignis ist mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Wir sangen in diesen Jahren oft ein altes deutsches Volkslied, das von einigen sogar als Hymne bezeichnet wurde – „Die Gedanken sind frei!“. Wir haben es bei allen Gelegenheiten und überall gesungen. Heute streuen einige selbsternannte Widerstandskämpfer immer ´mal wieder in die Medien, dass dieses Lied in der DDR verboten gewesen sei. Das ist wie so vieles über diese Zeit populistischer Blödsinn. Als wir am Ende des Tages durch die Bahnhofshallen des Leipziger Hauptbahnhofes zogen, erklang es immer wieder. Man kann sich die Akustik des einmaligen Bahnhofes vorstellen. Es war wohl die gewaltigste und ehrlichste Interpretation dieses deutschen Volksliedes, die es jemals gegeben hatte (!). Unser Gesang setzte sich am Vorplatz des Hauptbahnhofes fort. „Die Gedanken sind frei!“ Niemand hat uns daran gehindert.
Und so war es damals wie heute – „Kein Schwein hört uns zu!“
Mathias Richter