Archive for April, 2010

Harrison war am 29. September 1989 doch an der Prager Botschaft

Freitag, April 16th, 2010

Es gibt Tage, die sind wie angestemmt, vergehen einfach nicht. Am Ende bleibt davon nicht mehr als ein Datum. Und dann gibt es Tage, die möchte man festhalten – so flüchtig sind sie. Das sind jene Tage von denen immer etwas bleibt. Der 29. September 1989 war so einer. Mehrfach eingebrannt in meinen Erinnerungen. Das war der Tag an dem Hans Dietrich Genscher diesen unvollendeten Satz vom Balkon der Prager Botschaft gesprochen hat. Mir läuft beim Schreiben dieser Zeilen sofort wieder eine Gänsehaut über den Rücken. Ich habe die Wiederholungen der Bilder dieses Tages erst später im Fernsehen gesehen.

botschaft2041.jpg                                                                                   

Ich war mehr oder weniger unzufällig bei wichtigen Ereignissen des Jahres 1989 dabei. Zuerst auf dem Zeltplatz in Soprom als die Ungarn den Stacheldrahtzaun zum Westen öffneten, später am 9. Oktober in Leipzig und dann eben auch an jenem 29. September in Prag. Der Gruppenleiter der Karl-Marx-Städter Einfahrer Dieter Weimann hatte für seine Mannschaft eine Ausfahrt vom 28. zum 30. Oktober in die Umgebung von Prag organisiert und ich wurde als „Wissenschaftler“ mit Hansi Stolpe und unseren Frauen dazu eingeladen. Am Vormittag des 29. September konnte jeder wie er wollte Erinnerungen an Prag auffrischen. In einem Plattenshop in der Innenstadt kaufte ich die 88-Scheibe „Cloud Nine“ von George Harrison. Nach dem gemeinsamen Mittagessen begab sich die Gruppe geschlossen zur Prager Botschaft. Seit Tagen war die Botschaft besetzt. Ich kann mein Herzklopfen nicht beschreiben als das Botschaftsgebäude in Sichtweite kam. Das erste was mir auffiel war die schwarz-rot-goldene Fahne ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Das Haupttor der Botschaft war weit geöffnet. Es wurden Bettengestelle für die Botschaftsbesetzer angeliefert und das letzte Bettgestell wurde immer wieder hin und her geschoben. Auf diese Weise war es möglich Ankommende direkt durch den Haupteingang in die Botschaft zu leiten. Ich werde niemals im Leben die Gesichter derer vergessen, die spontan eine Entscheidung für das Leben getroffen hatten, ohne die Konsequenzen zu kennen. Viele vor allem junge Leute, die sich nur mit Plastebeutel in den Händen und eigentlich leeren Gesichtern in die Botschaft leiten ließen. In der Fortsetzung des Gebäudes befand sich eine hohe Mauer. Dort versuchten Väter ihre Kinder über die vielleicht 2 Meter hohe Brüstung zu schieben. Eine Freundin sagte hinterher: „Was wäre wohl passiert, wenn einer von uns die Nerven verloren hätte?“ 

botschaft2033.jpg

Wir gingen weiter bis zu jenem Zaun hinter der Botschaft, der später immer wieder im Fernsehen gezeigt wurde. Das war der Zaun, der trostlos herumstehenden leeren Trabis. Das Botschaftsgelände war an diesem Tag hoffnungslos überfüllt. Wenn ich mich recht erinnere, kam auf 200 Besetzer gerade ´mal eine Dixi-Toilette. Dementsprechend war auch der Gestank, der sich über dem gesamten Gelände ausgebreitet hatte. Hinzu kam, daß es in den vergangenen Tagen geregnet hatte und der Boden zwischen den dicht aufgestellten Zelten und am Zaun schlammig durchgetreten war. Pausenlos versuchten Neuankömmlinge über den Zaun zu steigen. Hinter dem Zaun halfen Besetzer der Botschaft, Frauen und Kindern mit einer Art „Räuberleiter“ den Zaun zu überwinden. An vielen Stellen standen weinende Eltern vor dem Zaun und sprachen mit ihren Kindern im Botschaftsgelände. Neben mir sagte eine Frau: „Mit jedem, der über den Zaun steigt, geht auch ein Stück von mir mit.“

Zweifellos die aufrührendste Ausfahrt in meinem Einfahrerleben. Das bleibt! Ich wünsche all denen, die an diesem Tag eine lebenswichtige Entscheidung getroffen haben, daß es sich gelohnt hat und mehr als der Plastebeutel, mit dem sie über den Zaun gestiegen sind, geblieben ist.

Die Scheibe von George Harrison war an diesem Tag immer dabei. Und wenn wir heute mit unserer Haus-Band z.B. den Titel „Just for today“ covern, dann sind mir immer wieder die Erinnerungen an den 29, September 1989 gegenwärtig.